Henrike Naumann: “Extremismus ist etwas, das jedem von uns supernah ist”

Henrike Naumann wurde 1984 in Zwickau geboren. In ihren Arbeiten thematisiert sie häufig rechtsextreme Subkulturen. Ihre Installation Triangular Stories über das NSU-Trio machte sie international bekannt. Heute lebt die Künstlerin in Berlin.

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Ihre neue Arbeit “Das Reich” ist derzeit im Rahmen des Gorki-Herbstsalons in Berlin zu sehen und beschäftigt sich mit den Reichsbürgern, einer wachsenden Szene von Menschen, die glauben, dass das Deutsche Reich fortbesteht, aber von alliierten Truppen besetzt ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist für sie nur ein Unternehmen. Laut Verfassungsschutz zählt die nur lose miteinander verbundene Bewegung etwa 10.000 Menschen.

Viele von ihnen besitzen Waffen, weigern sich, Steuern zu zahlen und erklären sich zu Führern unabhängiger Staaten, die häufig aus ihren Privatgrundstücken bestehen. Sie erkennen die Autorität staatlicher Behörden nicht an. Nachdem ein Reichsbürger aus der Nähe von Nürnberg vergangenes Jahr einen Polizisten erschoss, rückte die Szene in den Fokus von Medien und Politik.

“Das Reich” ist noch bis zum 26. November im Kronprinzenpalais, Unter den Linden 3 in Berlin, zu sehen.
VN: Was sind Ihre Erinnerungen an das Zwickau der 90er-Jahre?

HN: Ich verstand die politische Bedeutung der Wende nicht, aber ich sah die ästhetischen Veränderungen. Vor allem die Möbel. Alle Menschen in Ostdeutschland schienen zu denken: “Wir sind jetzt Teil der westlichen Welt, alles muss neu sein”. Sie schmissen ihre Möbel raus und kauften stattdessen diese postmodernen Kopien von Design aus Holzimitat. Für mich kam der Westen vor allem erstmal in Form von billigen Möbeln in meine Welt.

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VN: Wann sind Sie zum ersten Mal mit dem Thema Rechtsextremismus in Berührung gekommen?

HN: Zur Konfirmation bekamen alle meine männlichen Freunde eine Bomberjacke geschenkt. Sie hatten sich das gewünscht. Das war für mich ein Wendepunkt, zu sehen, wie alle in der Kirche unseres Dorfes saßen, mit ihren Kerzen und Bomberjacken. Als ich dann in Zwickau aufs Gymnasium ging, weitete sich mein Horizont. Ich lernte viele anders politisch Gesinnte, Linke, kenne. Aber ich hatte immer noch einen sehr starken Bezug zu meinen Freunden aus dem Dorf, weil ich mich im Jugendclub der Kirche engagierte. Wir machten Filmabende oder Diskussionsrunden. Aber an den Wochenenden kamen andere, ältere Leute mit Bier und Landser-Musik bei Fußballspielen vorbei. Ich begann zu verstehen, dass die sehr daran interessiert waren, die Jüngeren vor Ort zu beeinflussen. Sie haben rekrutiert.

VN: Wie sind Sie darauf aufmerksam geworden, dass es sich um Nazis handelt?

HN: Mein Vater war der Pfarrer des Dorfes. Er engagierte sich auch im Jugendclub, daher hatten wir viele Diskussionen darüber. Die Idee der Kirche und auch vieler Sozialarbeiter zu dieser Zeit war es, zu helfen. Sie versuchten es mit Akzeptierender Sozialarbeit, was bedeutete, dass sie versuchten, Menschen so zu akzeptieren, wie sie waren. Rückblickend muss man sagen, dass es Rechtsradikale eher bestätigt hat. Auch der spätere NSU traf sich in einem Jugendclub in Jena-Winzerla, der mit diesem Konzept arbeitete. Sozialarbeiter wollten oder sollten damals schlicht keine Jugendlichen wegschicken. Heute halten das viele für einen Fehler.

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VN: Wie recherchieren Sie für Ihre Arbeiten?

HN: Ich versuche, alles über das Thema zu lesen und suche nach Videos, die Reichsbürger selbst bei Youtube veröffentlichen. Ich sehe Dokumentarfilme und folge ihnen auf Facebook, um in ihre Wohnungen zu sehen. Mich interessiert sehr, wie sich ihre Weltanschauung in ihrem Lebensumfeld widerspiegelt. Reichsbürger sprechen oft davon, dass sie sich gefesselt fühlen, weil sie Steuern an diesen “falschen” Staat zahlen müssen. Deswegen habe ich in der Installation viel mit Ketten gearbeitet, habe zum Beispiel Stühle in Ketten gelegt. Die Arbeit steht auch sehr im Dialog mit dem Raum, in dem sie gezeigt wird: dem Einheitssaal im Kronprinzenpalais, in dem 1990 der Einheitsvertrag zwischen BRD und der DDR unterzeichnet worden ist. Die Reichsbürger haben ein Problem mit diesem Vertrag, sie sagen, er sei unrechtmäßig, denn im Grundgesetz von 1949 hieß es, dieses sei nur eine vorläufige Verfassung, befristet bis das deutsche Volk wieder vereint sein und seine eigene Verfassung schreiben wird. Das ist aber nicht geschehen, deshalb sagen Reichsbürger: “Ok, rechtlich gesehen ist Deutschland kein echter Staat, der letzte wirkliche Staat war das Deutsche Reich”. In diesem geschichtsträchtigen Raum habe ich aus Schrankwänden die prähistorische Kultstätte Stonehenge nachgestellt. Sie repräsentieren zum einen die Reichsgründungen im eigenen Heim, wo sich ein Reichsbürger hinstellt und verkündet: “Ich bin jetzt Reichskanzler und mein Wohnzimmer ist jetzt ein Regierungssitz”. Es entsteht zum anderen dadurch diese merkwürdige Atmosphäre eines Kultplatzes, eines germanischen spirituellen Heilplatzes, als wanderte man durch eine archäologische Stätte.

VN: Warum haben die Reichsbürger eine Schwäche für Stonehenge?

HN: Ihre Weltanschauung ist sehr eklektisch, es sind Leute dabei, die super volkstümliche rechtsextreme Rassisten sind, andere lehnen sich mehr an die Esoterik an. Der harte Kern, der sie vereint, ist die Idee der Volksideologie. Aber die Oberfläche ist bei allen ein bisschen anders, manchmal wirken sie nicht wirklich gefährlich, oder sogar ein bisschen lustig wie der Neo-Druide mit Stock und langem Bart, der auch zur Reichsbürgerszene gehört. Dieser Typ, Burghard Bangert, hat in Süddeutschland, wo er lebt, ein Stonehenge neben einen christlichen Friedhof gebaut. Er will zurück in die vorchristliche Zeit, zu den arischen oder germanischen Wurzeln der Deutschen. In den letzten 6 Monaten, habe ich versucht, das rational zu verstehen, bin aber immer gescheitert. Dann wurde mir klar, dass es vielleicht mit Vernunft nicht zu erklären ist, denn es geht um Gefühle. Reichsbürger denken, es gibt eine Verschwörung gegen das deutsche Volk und gegen sie persönlich und dass sie deshalb unglücklich sind. Diese Emotionalität macht die Fakten für sie gefügig. Alle Widersprüche spielen keine Rolle mehr, weil es sich richtig anfühlt. Alle persönlichen Kämpfe im Leben ergeben dann einen Sinn.

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VN: Warum denken Sie, sind diese Leute an einem Punkt angekommen, wo sie in Verschwörungstheorien aufgehen?

HN: Es gibt viele Menschen, die versuchen, die persönliche Tragödie oder das Trauma ihres Lebens in eine größere Perspektive zu rücken. Statt zu sagen “Ich habe es versaut”, oder “Die haben es versaut”, empfinden sie, dass ihr Dasein dadurch unterdrückt wird, dass sie ein Teil dieser Gesellschaft sein müssen. Sie sind sehr verletzlich, wenn man ihnen das sagt. Und das Interessante ist, dass ich absolut verstehe, wenn Leute sagen, dass etwas schief läuft. Das Problem ist, dass es keine Einigkeit, keinen Narrativ darüber gibt, was die Gründe sein könnten in Bezug auf die kapitalistische Gesellschaft und wo das System tatsächlich unfair gegenüber vielen Menschen ist. In der Weltanschauung der Reichsbürger würden Menschen unterschiedlicher Ethnizität erschossen. Es ist keine gute Zukunft, an die man glauben kann. Wir sollten uns engagieren, eine Zukunft, an die wir glauben wollen, zu formulieren.

VN: In vergangenen Werken thematisierten Sie häufig, wie ähnlich sich das Leben bestimmter Gruppen junger Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt einmal war, unabhängig davon, ob sie rechtsradikal waren oder nicht. Und wenn man in Ihre aktuelle Installation tritt, fühlt man sich tatsächlich wie im Wohnzimmer von jemandem, den man kennt.

HN: Dieses Gefühl entsteht durch die alltäglichen Objekte, mit denen ich arbeite. Man kennt sie und plötzlich ist das alles nicht mehr so weit weg von der Welt, in der ich vielleicht sonst lebe. Es ist etwas, das jedem von uns supernah ist, und das ist der Effekt, den ich erreichen will. Es gibt auch eine sehr schöne Verbindung zur Arbeit von Tobias Zielony hier in der Ausstellung, weil er diese tolle Dokumentation einer Jugend in den 90er-Jahren zeigt. Er hat die Fotos vorher nicht benutzt, jetzt hat er sie wiederentdeckt und sie sind sehr kleine Momentaufnahmen einer Zeit, wo alles noch nicht entschieden ist. Wenn man diese Bilder sieht, weiß man nicht: Ist es Ost- oder Westdeutschland? Was ist die Geschichte? Man fragt sich: Wo sind diese Menschen heute? Sie könnten überall sein.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Freien Presse. Übersetzt von Christian Gesellmann.

 

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