Ein Trommelmarsch hallt durch die noch leicht morgendusseligen Straßen von Auerstedt. Etwa 20 voll bepackte und leicht beleibte Soldaten in blau-weißen Uniformen, Gewehre auf den Schultern, die Mützen leicht schräg auf dem Kopf, stampfen bergan, über die Bahntrasse, Richtung Feld. Einige Schaulustige kommen aus ihren Häusern und zücken ihre Smartphones. “Sie kommen!”, ruft jemand.

Wenig später folgt eine kleinere Gruppe Soldaten in leicht verdreckten, weißen Uniformen. Sie haben keine Trommeln, aber zwei Hunde dabei. Es sind sächsische Soldaten. Sie schließen sich dem Marsch der Franzosen und Schaulustigen an, der sich in Richtung Schlachtfeld schlängelt, begleitet von den Trommelschlägen und dem entfernten Muhen der Kühe.
An der Emsmühle in Auerstedt fand heute vor ziemlich genau 211 Jahren eine der Schlachten statt, die Niederlage der deutschen Truppen gegen Napoleon besiegelte. Rund 70 Menschen, fast ausschließlich Männer, haben sich vergangenes Wochenende getroffen, um sie so originalgetreu wie möglich nachzustellen. Die Darstellung ist Teil der Feier zum 1175-jährigen Bestehens Auerstedts.
Vom Rand des Schlachtfeldes kann man nun zwischen dem dumpfen Knallen der Gewehre den Schreines Offizieres hören: “Nicht soweit auseinander! Die Rotten eng zusammenbleiben!”, treibt er seine Truppe zusammen. Jemand aus dem Publikum kommentiert: “Ah! Eine Fehlzündung.”

Neben mir steht eine Frau und erklärt: “Hier stehen die Linien der Preußen. Sehen Sie die Schützen vorne? Das sind immer zwei, die sich abwechseln. Der eine schießt, während der andere hintergeht und lädt.” Ein älterer Mann in einer prächtigen Uniform sagt: “Die Offiziere haben ja meistens nicht wirklich mitgekämpft. Die haben nur Befehle gegeben. Deshalb hatten die auch keine Säbel, sondern nur Degen.”

“Also die Weißen sind die Sachsen?”, will ein kleiner Junge von ihm wissen. “Ja. Bei den Preußen war der Grundton der Uniformen blau. Es gab also zig Regimenter und alle hatten bissl andere Hosen und so, aber der Grundton war blau.”
Dann zieht er seinen glänzenden Degen und zeigt ihn dem Jungen und dessen Freund: “Das hier ist ein echter Degen. Der ist 220 Jahre alt, also von 1800 ungefähr.” – “Alter!”, ruft der Junge erstaunt.
Ein Fernsehteam kommt und filmt die Szene, bittet den alten Offizier mit dem Degen und die Jungen nochmal kurz für die Kamera zu posieren. “Aber nicht stechen”, scherzt der Offizier in Richtung der Jungs. Dann erklärt er feierlich: “Ich bin der Generalfeldmarschall Carl Wilhelm Ferdinand Herzog von Braunschweig. Damals der Oberkommandierende der preußischen Hauptarmee.”

Ein Mann neben ihm fragt: “Sind Sie nicht in dieser Schlacht gestorben?” Der Herzog seufzt ein wenig und erzählt, wie und wann genau er zu Tode kam: “Bei Hassenhausen um 10.20 Uhr durch eine Musketenkugel tödlich verwundet. Durch die rechte Schläfe, durch beide Augen, blieb dann in der Wange stecken. Kam durch eine abenteuerliche Flucht nach Ottensen, eine dänische Enklave bei Hamburg, und starb dort drei Wochen später.” In sein eigenes Herzogtum Braunschweig hatte er nicht zurückkehren können, das war inzwischen von den Franzosen besetzt worden.
Im echten Leben ist der Herzog Rentner und heißt Werner Meister. Früher war er Geschichtslehrer. Seit mehr als 20 Jahren ist er Teil dieser Szene von Menschen, deren Hobby es ist, die großen Napoleonischen Kriege nachzustellen.
“Und war Napoleon auch hier?”, fragt ihn nun eine Frau aus dem Publikum, das sich am Rande des Schlachtfeldes um ihn herum drängt. “Nein”, sagt der tödlich verwundete Herzog. Napoleon war in Jena, aber nie in Auerstedt. Dann erklärt er, was genau sich hier vor 211 Jahren zugetragen hat. Als die Preußen bei Hassenhausen von den Franzosen besiegt worden waren, dem Herzog also schon eine Musketenkugel in der Backe steckte, versuchten sich seine Truppen nach Auerstedt zurückzuziehen. Die französischen Truppen verfolgten sie.

Es kam zu drei Rückzugsgefechten und eines davon war hier an der Emsmühle. Die 27.000 Franzosen gewannen die Schlacht gegen 50.000 Preußen. “Hier auf dem Hügel standen Weimarer Schützen und sächsische Jäger. Die Jäger hatten grüne Uniformen an. Das waren meist Förstersöhne, die auf eine Anstellung als Förster hofften. Und um die Zeit zu überbrücken, dienten sie im preußischen Heere. Die hatten ihre eigenen Gewehre mit, das waren hochwertige Waffen, schon mit Doppellauf, und die konnten auch sehr gut zielen.”
“Also wer sind jetzt nochmal die Männer in den weißen Uniformen?”, fragt eine Zuschauerin.
***
Ein anderer Rentner, der den Schaulustigen lang an vorderster Front von den wichtigsten Kriegen des 19.Jahrhunderts berichtete, sitzt heute abseits der Schlacht im Biwak und kocht Gulaschsuppe.
Robert Heyne ist 66 Jahre alt. Er hat einen weißen Vollbart und den leicht verhauenen Gang eines Mannes, der sein ganzes Leben lang mit den Händen gearbeitet hat. Seine Leidenschaft für die Napoleonischen Kriege entdeckte er im Alter von zwölf Jahren. Damals gab ihm ein Bauer eine echte Kanonenkugel, die er in seiner Scheune gefunden hatte. Sie war etwa faustgroß.
Seither sucht Heyne die Felder Thüringens nach Spuren der Schlachten ab, sammelt, recherchiert, archiviert. Ein Teil seines Wohnhauses ist heute ein Privatmuseum, das laut Heyne jährlich von bis zu Tausend Menschen besucht wird. Er macht auch Führungen für Schulklassen durch seine Sammlung von Waffen, Schlachtplänen, Uniformen, originalen Flugblättern. Längst beschäftigt er sich nicht mehr nur mit dem Krieg, sondern auch Alltagsgegenständen aus dem 19. Jahrhundert, von Spielzeug bis Musikinstrumenten.

Heyne lebt in Neuengönna, einem malerischen kleinen Dorf bei Jena, mit Gassen aus Kopfsteinpflaster, über die winzige Katzen huschen und die Leute noch Hallo zu Fremden sagen.
Es ist die Leidenschaft für die Geschichte der Region, nicht Kriegsbegeisterung, die ihn antreibt, sagt er. Oft wird er gefragt, wie viel Geld er in die Sammlung und die Schlachtnachstellungen gesteckt hat. “Keine Ahnung. Wirklich nicht. Wie soll man das in Geld messen?”, sagt er und streckt die Arme aus, “der Wert der Geschichte – das kann man nicht in Geld angeben!”
Irgendwann begann er, nicht mehr wahllos zu sammeln, sondern sich auf bestimmte Aspekte zu konzentrieren. Er begann Schlachtnachstellungen zu organisieren, in originalgetreu nachgeschneiderten Uniformen, die rund 2500 Euro kosteten, das Schicksal seiner Vorfahren nachzuempfinden. Auch sein Sohn und seine Ehefrau steckte er mit seinem Hobby an. Nun zieht er sich etwas zurück aus dem Organisatorischen. “Jüngere müssen nun das Ruder übernehmen”, sagt er mit dem ewigen Schmunzeln, das sein Gesicht rahmt, “ich bin doch schon ein alter Mann.” Und so bleibt er dieses Jahr im Biwak und kocht Suppe für die Truppen.
***
Die Soldaten, die sich in der Zwischenzeit mehr als zwei Stunden lang unerbittlich und doch uniformschonend auf dem Auerstedter Feld niedergemetztelt haben, folgen nun den Zuschauern, den etwas langweilig geworden ist, zurück in die Stadt. Dort gibt es erstmal Bratwurst und Bier.

In einem Biergarten steht neben einer Jahrmarktsbude mit Plüschtieren und CDs von Metallica bis Dudelsackhymnen ein Mann in einer französischen Grenadieruniform und bestellt “ein Rradlér bitté.” Die Bedienung guckt ihn leicht amüsiert an. Er bedankt sich mit “Merci, Madame” und setzt sich neben einen Mann, der anhand seiner Uniform sein Vorgesetzter sein müsste, es ist ein “Capitaine” und seine “femme”. Die femme trägt einen eleganten weißen Umhang, der fast bis zum Boden reicht, und raucht Marlboro. Die drei genießen ihre Getränke, grüßen zum Vergnügen der Passanten ausladend, und posieren für zahllose Erinnerungsfotos.

Am Bahnhof treffe ich auf eine Gruppe sächsischer Soldaten. Ihre Waffen haben sie aufgestellt wie das Gerüst eines Indianerzeltes. Die Waffen und das Schießpulver sind echt, erklärt mir einer der Soldaten, ein älterer Herr. Sie lassen nur die Kugeln weg bei den Schlachten. Sie treffen sich regelmäßig, um für die Schlachtdarstellungen zu trainieren. “Einmal aus Sicherheitsgründen. Und dann wollen wir ja den Zuschauern auch eine schöne Show bieten!”, sagt er. Auch er ist bereits seit rund 15 Jahren dabei, nahm an Darstellungen in ganz Europa teil. Dann bietet er mir einen Zinnbecher voll Wein an, der “aus Authentizitätsgründen” leicht verschmutzt wirkt. “Heute Abend wollen wir noch Spaß haben. Dafür sind wir schließlich gekommen!”, ruft er. Die sächsischen Soldaten heben ihre Becher und rufen dreimal “Es lebe der Kurfürst!”, dann trinken sie. “Or, das ist ja ein scheiß Wein”, sagt einer von ihnen. “Wir haben auch noch diesen Nusslikör von den Russen. Der muss auch mal noch mit alle werden”, antwortet einer seiner Kameraden und lacht, dann mischen sich die Soldaten unter die Festgesellschaft. 1175 jahre Auerstedt. Geschichte kann so gnädig sein.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Ostthüringer Zeitung. Übersetzt von Christian Gesellmann.